Anfangen

Neben den Theaterprojekten am Heimathafen leite ich auch ein Theaterprojekt von Mitspielgelegenheit zusammen mit Max an einer Schule. Jeden Dienstag verlasse ich um 8 das Haus, fahre sehr lange S-Bahn und Bus und laufe dann den Weg zur Schule im Stechschritt. Um 9.30 bin ich mit Max vor der Schule verabredet. Meistens schaffe ich es nur knapp oder 5 Minuten später.

Heute regnet es in Strömen und der Weg nimmt kein Ende. Schienenersatzverkehr und die üblichen Massen an blassgesichtigen müden Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Um 9.40 Uhr stehe ich mit Max vor dem Lehrerzimmer. Um uns herum eine Traube „unserer“ Theaterschüler_innen. Einige plappern gutgelaunt drauflos, andere ignorieren uns. Es klingelt schrill und schrappelig. Die Klingel wurde offenbar seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht ausgetauscht. Max und ich bewegen uns im Strom der Schüler_innen über den nassen Schulhof ins gegenüberliegende Gebäude, die Treppen hinauf zum Klassenraum. Dort stehen wir vor der verschlossenen Tür wie immer. Schüler-Gekreische, Gerangel, Geschubse. Wir warten auf Frau Sinn, die Klassenlehrerin. Frau Sinn hat die Klasse erst vor wenigen Wochen übernommen, weil auf einen Schlag mehrere Lehrkräfte im 9. Jahrgang ausgefallen sind. Frau Sinn hat noch keine Unterrichtserfahrungen, das Referendariat steht ihr noch bevor, aber Berlin scheint derzeit jedes Wesen auf zwei Beinen einstellen zu müssen, um die Unterrichtsstunden einigermaßen decken zu können.

Heute erscheint Frau Sinn offenbar nicht. Wir warten. Endlich kommt eine andere Lehrerin und schließt uns den Klassenraum auf. Die Klasse poltert schubsend, kichernd, motzend, albernd hinein.

„Wer ist heute erst dran?“ kommt die unvermeidliche Frage. Da wir zuerst die eine Hälfte und danach die andere Hälfte der Klasse unterrichten, gibt es jedes Mal eine Diskussion, wer erst dran ist – vor allem aber, wer in welcher Gruppe ist. Beim letzten Mal haben wir die Klasse selbst entscheiden lassen und ihnen die Gruppen-Aufteilung überlassen. Offenbar hat Frau Sinn aber jetzt eine andere Einteilung vorgenommen: Jemand drückt uns einen Zettel mit ihrer Schrift in die Hand. Wir sollen nach dieser Liste einteilen und die eine Hälfte der Klasse zu Frau Sinn nach unten in den Ethik-Unterricht schicken.

Riesen-Theater:
Das ist gar nicht die Einteilung, die wir letzte Woche selbst gemacht haben!
Nihat ist bei uns in der Gruppe und Baker auch!
Ne, ich geht jetzt nicht runter, ich bleib hier.
Aylin und ich wollten doch zusammen in einer Gruppe sein, warum hat Frau Sinn das geändert?
Oh man, Scheiß-Lehrer, ich hab keinen Bock!
Jetzt hab ich auch keinen Bock mehr auf Theater!
Ja, Scheiß-Theater, man hat uns sowieso gar nicht gefragt, ob wir das wollen!
Ne, ich mach nicht mit!
Ich auch nicht, ich hab sowieso keinen Bock mehr. Scheiß Schule.

So geht es in voller Lautstärke noch einige Zeit weiter. Ich stehe da und denke: „Nicht aufregen. Das hat alles nichts mit dir persönlich zu tun…“ Da es unmöglich ist, sein eigenes Wort zu verstehen, sprechen Max und ich die Schüler_innen einzeln an:

Was ist denn los?

Ja, es ist wirklich blöd, dass die Gruppen-Einteilung jetzt wieder anders ist, aber wahrscheinlich hatte Frau Sinn ihre Gründe, die Liste noch mal zu ändern.
Ja, das stimmt, wir haben euch gesagt, dass ihr selbst entscheiden könnt, und ihr habt das ja auch gut gemacht – trotzdem müssen wir jetzt einen Kompromiss finden.
Wir gucken noch mal, wie eure Einteilung war und ob wir das einigermaßen hin kriegen.
Nein, wir nehmen euch wirklich ernst – auch eure Entscheidungen – genau darum geht es uns.
Aber wir müssen das Stück für Stück schaffen und ihr müsst dabei auch Frau Sinns Vertrauen gewinnen.
Wenn du dich jetzt so aufführst, Gina, dann glaubt uns Frau Sinn nie im Leben, dass ihr irgendwas selbst entscheiden könnt… Ganz im Ernst…
Ah, super, Cem: Du gehst freiwillig in die andere Gruppe? Perfekt, das ist wirklich souverän, danke.
Und Gina, du musst jetzt mal runter kommen, ich kann dich gar nicht verstehen, wenn du so rum schreist. Wie ist denn dein Plan jetzt?
Ja, ich weiß, ihr habt es dieses Jahr nicht einfach mit den ganzen Lehrer-Wechseln.
Ja, ich weiß, ihr durftet gar nicht selber entscheiden, ob ihr Theater machen wollt.
Trotzdem sind wir jetzt hier und wollen gerne mit euch arbeiten.
Du weißt doch noch gar nicht, ob es „Scheiße“ ist – wir haben doch noch gar nicht angefangen!
Doch, das verspreche ich dir. Ich verspreche dir, dass du es nicht mehr „scheiße“ findest, wenn wir richtig angefangen haben.
Ne, das glaube ich nicht nur, das WEISS ich.
Ja, wenn es dir nicht gut geht, kannst du gerne erstmal am Rand sitzen und mir helfen bei der Regie.
Ja, klar kannst du was trinken.
Nein, wir sind nicht sauer auf euch – wisst ihr doch. Wir freuen uns darauf, wenn wir endlich mit euch los legen können. Wenn wir endlich diese ganzen Probleme mit euch zur Seite geräumt haben.
Ja, was glaubst du denn selber? Hast du denn das Gefühl, wir sind genervt von euch? – Na, eben.
Warum sollten wir das auch sein? Am Anfang ist es immer hart. Aber dann warten wir eben einfach ein bisschen länger. Bis es geht.
Doch. Es geht ganz bestimmt. Ihr seid doch nicht blöd.
Oh, super, Ana, du gehst auch freiwillig runter? Das ist echt cool. Wir sehen uns nachher.
Und nächstes Mal arbeiten wir doch sowieso wieder als ganze Klasse zusammen. Ist doch gar nicht so dramatisch.
Ich finde, wir versuchen es jetzt einfach mal…
Wollen wir nicht mal anfangen?
Und so geht es weiter, bis ich – weiter redend und ermutigend – mit einigen einen Stuhlkreis aufgebaut habe. Nach weiteren zehn Minuten sitzen endlich alle auf Stühlen im Kreis. Es ist leise.

Wir fangen an.

BAM!!! Da fliegt die Tür auf. Frau Sinn steht im Türrahmen.

SO GEHT DAS NICHT!! ES FEHLEN IMMER NOCH WELCHE IN DER ERSTEN GRUPPE!!! YOUSSEF UND SABRINA UND GIZEM – IHR KOMMT JETZT SOFORT RUNTER!!!!

Und das Theater geht augenblicklich wieder von vorne los. Geschrei, Beleidigungen, Wutanfälle.

Scheiß-Theater!!!
Jetzt hab ich GAR keinen Bock mehr….
Warum müssen wir überhaupt dieses blöde Projekt machen??
Ihr seid doch auch nur Scheißlehrer.
Ich geh mich jetzt beschweren, dass wir dieses blöde Projekt machen müssen!
Ich will ganz normalen Unterricht, nicht diesen Scheiß.
Ist doch voll langweilig!
Wir machen ja gar nichts!!!
Nie (!) machen wir was!
Ich will endlich RICHTIG Theater machen!

Und wieder gehen wir von einem zum anderen, „Hand auflegen“…

Nach einiger Zeit sage ich: Merkt ihr eigentlich, was ich hier die ganze Zeit mache? Ich werbe um euch. (Ich grinse dabei ein bisschen, aber trotzdem wissen sie, dass ich das gerade ernst meine.) Ich werbe um euch, die ganze Zeit. Und ihr gebt mir die ganze Zeit einen Korb. Aber gut, dann muss ich mir eben noch mehr einfallen lassen. Dann muss ich mich eben noch mehr anstrengen…

Darauf Merve: Ja, stimmt. Sie kämpfen voll um uns, wa?

Stille. Alle gucken mich etwas erstaunt an, als wäre ihnen gerade etwas aufgegangen.

Ja, Merve, so kann man es nennen.

Ich muss lachen. Einige lachen etwas verlegen mit.

Und wieder fangen wir an.

Als alle hochkonzentriert im Raum stehen, schalte ich die Musik an. 23 Sekunden geht ein Engel durch den Raum.

Dann verabschiedet sich die Anlage mit einem lauten Piep. Musik aus. Alle sind verwirrt. Alle sind raus. Gelächter, Gekreische, Geschubse. Max und ich versuchen den Technik-Ausfall zu beheben.

Und wieder fangen wir an.

… Aber in den letzten zwanzig Minuten ist es dann wieder soweit: Wie schön sie aussehen. Wie konzentriert sie da stehen. Wie sehr sie GUT SEIN WOLLEN – und es auch sind.

Aber der Weg dahin ist immer wieder grenzwertig. Jedes Mal frage ich mich: Wird meine Strategie des liebevollen Werbens um jede und jeden einzelnen aufgehen? Und wie lange wird es dieses Mal dauern? Und immer wieder schiebt sich dieser Satz in meinen Kopf: Da muss man jetzt einfach mal hart durchgreifen!

Was soll denn das eigentlich heißen? „Hart durchgreifen“? Ich weiß, dass das überhaupt nichts bringt. Ich verschwende dann nur wahnsinnig viel Kraft und Nerven und die Statuskämpfe fangen dann erst richtig an. Dann dauert es nur NOCH länger, bis irgendeine kreative, konzentrierte Arbeit beginnen kann. Nein. „Hart durchgreifen“ ist keine Option.

Statt dessen hilft immer immer wieder nur dieses eine: Jedes einzelne aufgebrachte Wesen in diesem Raum mental in den Arm nehmen, aufbauen, beruhigen, wertschätzen, wahrnehmen. Signalisieren: Ich sehe dich. Auch durch dein bescheuertes Verhalten hindurch sehe ich dich. Und ich gebe dich nicht auf. Dann dauert es eben länger…

Dafür brauche ich aber ein starkes mentales Gerüst. Auf keinen Fall dürfen mich diese kleinen und großen Angriffe innerlich erreichen. Bildlich gesprochen muss ich beiseite treten und den Angriff an mir vorbei an die Wand sausen lassen. Denn all das gilt nicht mir. Und außer mir und Max haben sie in diesem Augenblick niemanden, der sie aus diesem Wahnsinn raus holen kann. Der sie wieder mental auf eine innere, friedliche Blumenwiese setzen kann.

Unsere innere Kraft muss größer sein, als die negative Kraft von 20 Jugendlichen. Und unsere Kraft muss sich mit der Zeit, langsam aber sicher, im Raum durchsetzen. Wenn man ausgeschlafen ist – und mit sich selbst im Reinen – dann kann man das schaffen. Aber es ist jedes Mal ein Balancieren am Abgrund der Selbstzweifel. Und manchmal klappt es auch nicht.

Es gibt aber einen Satz, den ich mir immer sage, wie ein Mantra, der vielleicht sehr albern klingt, mir aber über all die Jahre immer geholfen hat:

Ich sage mir: Du musst in der Liebe bleiben. Du musst mit ihnen in der Liebe bleiben.

Und ganz ehrlich: Das hilft. Denn das ist eindeutig ein guter und richtiger Gedanke.

Irgendwann bekommt man von ihnen einen klaren Blick. Eine Tür geht ganz vorsichtig und zaghaft auf.

Und dann fangen wir an.