Das Nadelöhr der Zuversicht

In den letzten Tagen vor der Aufführung schlafe ich schlecht. Der Druck aller Beteiligten wird spürbar, besonders bei den Kindern. Am Montag ist zwar „Mutti“ wieder da und wir haben eine sehr schöne, ruhige Probe, in der wir ganz unter uns sind – aber es ist die trügerische Ruhe vor dem Sturm. Ich ahne, dass die ganz große Krise noch kommt. Der Gedanke, dass ich das alles nun schon so oft erlebt habe, bringt keine Erleichterung. Jedes Mal wieder weiß ich, dass man auch scheitern kann – dass der Prozess auch in eine Niederlage münden kann. Zwar ist es bisher nie so gewesen, immer wurden wir mit dem Strahlen und dem Glück einer gelungenen Präsentation belohnt – aber der Gedanke daran beruhigt mich überhaupt nicht. Ich frage mich, wann ich endlich cool und gelassen in eine solche Endphase gehen kann – wahrscheinlich nie – denn wenn es nach 15 Jahren Theaterarbeit nicht gelingt – wann dann? Zu sehr ist mir bewusst, was alles schief gehen kann – selbst wenn man alles „richtig“ macht.

Am Dienstag ziehen wir um in die Aula der Phormsschule. Dort wird am Donnerstag Abend die Aufführung statt finden. Die Klasse ist wahnsinnig aufgeregt. Frau N. und ich achten umso mehr auf die Einhaltung unserer Rituale, strahlen Ruhe und Zuversicht aus, achten auf klare Ansagen und klare Abläufe, trösten, beruhigen, reden einzelnen gut zu, die immer wieder aussteigen und am Rand sitzen. Wir schaffen am Dienstag den ersten Teil des Stücks durch zu spielen.

Zu Hause setze ich mich sofort hin und gehe in Gedanken alles durch, was wir morgen schaffen müssen – an unserem letzten Tag vor der Aufführung. Und ich weiß: Wir können es schaffen – aber nur, wenn alle konzentriert mit arbeiten. Die Texte müssen in ihren Abläufen (wer ist wann dran mit welchem Text) geübt werden, die Kinder müssen es schaffen, die Szenen durch zu spielen – ohne zwischendurch immer wieder zu streiten, abzuhauen oder aufzugeben. Ich gehe jede einzelne Situation in Gedanken durch, bereite Alternativen für Problem-Situationen vor: Bei Problem x machen wir dies, bei Problem y jenes. Ich strukturiere die einzelnen Phasen in winzigen Schritten, damit kein Kind Angst bekommt, sich überfordert fühlt und in der Folge aussteigt. Nachts kriege ich kaum ein Auge zu und denke alles gefühlte hundert Male durch.

Dann kommt der Mittwoch, unser letzter Tag vor der Aufführung. Hauptprobe. Heute müssen wir einen Durchlauf schaffen. Sonst können wir den Kindern den Stress der Aufführung nicht zumuten. Dann wären wir gescheitert. Alles, was wir in den Wochen zuvor erarbeitet haben, würde im Gefühl einer Niederlage schal und damit unwirksam bleiben. Denn nur das überwältigende, wärmende Gefühl des erlebten Erfolgs auf der Bühne, lässt alle einzelnen Entwicklungsschritte des Prozesses rückwirkend – tausendfach – aufgehen. Nur dann erleben die Kinder, dass alles einen Sinn hatte. Deswegen nützt es auch überhaupt nichts, mir zu sagen, dass man auch mal scheitern darf. Wenn es nur um mich ginge, dann wäre das etwas, das man überleben könnte. Aber den Kindern kann man nichts vormachen. Wenn sie scheitern, fühlen sie es sofort – und ich wäre dafür verantwortlich, dass sie sich in ihrer falschen Annahme, dass „sie nichts hinkriegen“, ein weiteres Mal bestätigt fühlen. Dabei geht es ja die ganze Zeit darum, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Ausgerechnet an der Stelle zu scheitern, könnte ich mir schwer verzeihen.

Als ich am Mittwoch in der Aula der Phormsschule alles vorbereitet habe und auf die Klasse warte, kommen, zusätzlich zu unserer Fotografin – erstmal viele Erwachsene – zum Zuschauen. Eine Redakteurin der „Zeit“, eine Redakteurin vom Deutschlandfunk, eine Mitarbeiterin von Quinoa, unsere wissenschaftliche Begleiterin von der Alice Salomon Hochschule und eine weitere interessierte Besucherin. Alle haben so ein „Ich freu mich schon und bin gespannt- Gesicht“. Ich denke, na – wartet mal ab. Während ich versuche, die Fragen der Redakteurinnen zu beantworten, schaue ich immer wieder verstohlen auf die Uhr: Wo bleiben sie denn? Mein Magen fühlt sich nicht gut an. Aber ich lächle und spiele Zuversicht und gute Laune. Mit einer Verspätung von 20 Minuten kommen sie dann endlich – mit Frau N., Herrn B. (einem weiteren Quinoa-Kollegen) und dem Schulleiter Herrn M. (Es ist nicht einfach, eine Klasse zu Fuß durch den Wedding zu lotsen, U-Bahn rein, U-Bahn raus, durch den Straßenverkehr, vorbei an den zahlreichen Spätis, wo man so schön Naschkram, Plastikzubehör für Freundschaftsarmbänder und anderes hippes Zeugs kaufen kann…Es ist wie einen Sack Flöhe hüten und ich weiß, dass auch unterwegs alles Mögliche schief gehen kann).

Aber jetzt sind sie da. Es kann los gehen.

Die Erwachsenen nehmen hinten Platz und schauen erwartungsvoll. Die Kinder wuseln durch die Gegend, Frau N. und ich starten die Probe. Zunächst einmal sitzen wir wie immer im Kreis. Noch ist es konzentriert. Aber ich spüre die Anspannung der Kinder wie einen pfeifenden Wasser-Kessel.

Die ersten zwei Stunden sind anstrengend, aber es läuft einigermaßen. Dann rasten die ersten aus. Beschimpfen sich, schubsen sich, schreien sich an. Der Kampf um die Zuversicht beginnt. Frau N. und ich laufen hin und her, fangen einzelne Schüler_innen wieder ein, die „nicht mehr mit machen wollen“, oder heulen, weil jemand sie geärgert, gekniffen, angepöbelt hat. Immer wieder kriegen wir es wieder hin, immer wieder stellen wir die Ruhe wieder her. Weiter weiter weiter. Doch dann knallt es richtig. Die Reihenfolge der Texte klappt nicht, einer nach dem anderen verliert die Nerven. Hakan und Nihat sind durch die Feuertür verschwunden, Mehmet rennt schreiend durch den Raum, Sabrina sitzt heulend in der Ecke, Nesrin brüllt herum, einige andere spielen kreischend Verfolgungsjagd, Dominik ist durch den Notausgang abgehauen und auf die Straße gelaufen – komplettes Chaos.

Frau N., Herr B., Herr M. und ich laufen von links nach rechts, beruhigen, trösten, versuchen die Kinder wieder einzusammeln. Ich spule das gesamte Repertoire meiner vorbereiteten Lösungs-Strategien ab – nichts hilft. „Theater ist scheiße! Wir schaffen das sowieso nicht! Ich hör auf! Ich komme nicht mehr! Ich geh jetzt nach Hause! Alles scheiße! …“

Die erwartungsvollen Zuschauer sitzen versteinert mit bleichen Gesichtern auf ihren Plätzen und weichen meinem Blick aus. Ich zwinge mich, nicht darüber nach zu denken, was die Redakteurinnen wohl schreiben werden und wie sich das auf die Zukunft unserer Arbeit auswirken wird… Auf die Zukunft der Quinoa-Schule. Auf meine Zukunft: Ja, toll, was die Plath immer erzählt. Dabei KANN sie es gar nicht: Komplett überfordert die Frau. Das kommt dabei raus, wenn man Theaterunterricht macht… Die sollen doch lieber Deutsch, Mathe, Englisch machen… Sieht man ja, wozu das führt hier…usw. usw. (Meine Kreativität, was fiese Gedanken angeht, ist grenzenlos.)

Ich sehe im gesamten Raum nur überforderte Menschen. Geschrei, Geheule, stummes, blankes Entsetzen. Und Angst. Nackte Angst vorm kompletten Scheitern. Und mir wird bewusst, dass es jemanden geben muss, der jetzt die Nerven behält. Reiß dich verdammt noch mal zusammen. Das hast du schon tausendmal erlebt. Jetzt mach das auch, was du immer predigst, verlass dich auf das wertschätzende, stärkeorientierte Prinzip: Hau positive Kraft raus, bleib ruhig und zuversichtlich. Das ist doch nur die übliche Krise. Die Kinder lassen den Druck, der auf ihnen lastet, an uns aus, denn wo sollen sie sonst damit hin?

Das komplette Chaos dauert gefühlte Stunden, Jahre, eine Ewigkeit, rausgefallen aus jeglichem Zeitgefühl – in Wahrheit vielleicht eine Stunde? Aber es ist eine Stunde, in der ich mir immer wieder sagen muss: Wir kriegen es hin. Es wird klappen. Du musst die Nerven bewahren. Aus dem Augenwinkel sehe ich Frau N. in der Ecke an der Wand runter rutschen, sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem Taschentuch, schluchzt. Herr B. rennt draußen auf der Straße herum, um die weg gerannten Schüler vor Autounfällen zu bewahren.

Früher war ich in genau diesen Situationen immer allein. Und habe mir das Heulen mühsam verkniffen bis ich zu Hause war. Im Quinoa-Team ist man aber glücklicherweise alles andere als allein. Wir haben dasselbe Ziel und kämpfen „an EINER Front“, nicht – wie so oft erlebt im Lehrerzimmer – gegeneinander („Die Plath will sich nur beliebt machen bei den Schülern…!!“, „Oh die Plath heult! Die ist eben nicht belastbar…“. „Das hat sie jetzt davon, wenn die Schüler auch immer machen dürfen, was sie wollen…“, Und bei Erfolg dann: „Ja, mit DEN Schülern hätte ich das auch hingekriegt. Guck mal, die sind doch ganz lieb! Was will sie eigentlich?“ usw. usw. Stimmen aus der Vergangenheit…). Hier ist klar, worum es in Wahrheit geht, und dass wir gemeinsam dafür einstehen. Ein sehr gutes Gefühl.

Da endlich kommt in mir eine ganz große Ruhe auf und ich denke: Super, dass die Presse heute da ist. Sollen sie sich in aller Ruhe anschauen, was diese Arbeit wirklich bedeutet. Wir haben nichts zu verbergen. Dieses ganze Gelaber in der Öffentlichkeit über Bildungsbenachteiligung…! Aber keiner weiß eigentlich, was es tatsächlich bedeutet, diesen Kindern etwas wirklich Positives zu ermöglichen. Keiner weiß, welche Kraft es tatsächlich kostet, immer wieder vorzuleben, was wir von ihnen erwarten – und es nicht bloß von ihnen einzufordern.

Es nützt eben nichts, sie anzuschreien, sie fertig zu machen – das machen sie ja schon selbst! Wo soll ihr Selbstbewusstsein, ihre Kraft und ihr Wille, sich anzustrengen, denn her kommen? Wenn nicht irgendjemand die Kraft hat, ihnen vorzuleben, dass sich das lohnt? Alle reden und schreiben, was man alles tun soll – aber keiner von denen hat in einem Raum mit 24 schreienden, heulenden, sich prügelnden, verzweifelten Kindern gestanden und diesen Moment der totalen Hilflosigkeit je erlebt. Wenn autoritäres, „hartes Durchgreifen“ eben nichts bringt. Wenn alle pädagogischen Rezepte ausgespielt sind. Wenn es vorbei ist mit den Theorien und den Lehrbüchern. Sollen sie sich das alles schön angucken und darüber schreiben. Vielleicht dringt dann ja mal eine Erkenntnis in die Öffentlichkeit:

Nämlich: Dass diese Kinder unfassbar viel Liebe, Wärme und Zuversicht brauchen. Viel mehr, als wir denken. Damit sie überhaupt erstmal anfangen können, zu glauben, dass sie etwas KÖNNEN und dass sie gebraucht werden. Es gehört aber eine unglaubliche Stärke dazu, Liebe, Wärme und Zuversicht zu geben, wenn 24 Kinder ihre gesammelte Angst und Unsicherheit in Form von Aggressionen raus knallen. Das ist der Moment der totalen Einsamkeit und Hilflosigkeit, wo einem keiner sagen kann, wie es wirklich geht. Wo es wahrscheinlich doch eher um eine innere Haltung geht, als um ein Rezept.

Ich denke all das und stehe dabei mitten im Chaos. Aber es scheinen die richtigen Gedanken zu sein. Ich werde ganz ruhig und sage zu einzelnen Kindern leise, aufbauende Worte. Dann nur noch: Kommt zu mir. Ja, komm zu mir, und bleib hier bei mir. Das sage ich gefühlte 500 tausend Mal, bis sich die meisten zögerlich, bockig, verheult um mich herum einfinden.

Was machen wir jetzt? frage ich. Und man kapiert das ja nicht, man weiß nicht, warum sich plötzlich etwas ändert. Aber genau so war es: Beim dritten Mal leise nachfragen: Was machen wir jetzt?, sagt Ana: Wir spielen jetzt das ganze Stück von vorne bis zum Ende durch. Ich lächle, hebe meinen Daumen und sage: Super. So machen wir es, ich stehe auf und gehe durch den Raum zum Mischpult, wo ich mich hinsetze und nichts mehr mache. Nur noch warte und die Kinder auf der Bühne angucke.

Sie fangen an, sich zu ordnen. Es ist inzwischen zwei Stunden nach Probenschluss. Aber das interessiert keinen. Die Klasse interessiert es offenbar auch nicht. Ich schaue sie ruhig an und warte still auf meinem Technik-Platz. Und tatsächlich werden sie leise. (Man glaubt das nicht). Ana gibt mir das Zeichen. Ich fahre Licht und Ton hoch und sie fangen an zu spielen. Sie spielen das gesamte Stück durch. Frau N. und Herr B. kommen durch den Raum zurück zur Technik, wir trauen unseren Augen nicht.

Wir Erwachsenen sitzen still da und schauen zu. Die Kinder kennen das gesamte Stück. Sie wissen, was sie machen sollen, sie haben in den Wochen offenbar alles mitgekriegt. Noch mal: Man glaubt das nicht. Sie spielen alles durch bis zum Schluss. Und wir springen von unseren Stühlen hoch und applaudieren und jubeln.

Danach sitzen wir im Kreis. Die Kinder sind mucksmäuschenstill – als wäre nichts gewesen. Es ist fast zum Lachen. Und Frau N. und ich meckern jetzt natürlich NICHT. (Das war der Punkt, der in der Schule früher so oft schief ging. Dass Lehrkräfte meinten, sie müssten nach einer solchen Stunde erstmal die ganze Klasse fertig machen. Aber das ist natürlich totaler Quatsch. Und es bringt die Kinder nur wieder ganz weit weg von dem, was sie ja nun gerade gelernt haben: Eine Krise zu überstehen, die Angst zu besiegen und zu zeigen, was sie können).

Frau N. und ich sagen ihnen das alles ganz offen. Wir sagen auch, dass wir heute an unsere Grenzen gekommen sind, und dass das nicht geht. Dass wir bei ihnen sind, egal, was passiert, aber dass sie schon aufpassen müssen, dass sie mit unseren Kräften sorgsam umgehen. Wir sagen ihnen, dass wir auf sie aufpassen und sie unterstützen, dass sie aber umgekehrt auch auf uns aufpassen und uns unterstützen müssen. Und dass wir dann alles schaffen können, was wir wollen.

Und jetzt muss ich es doch schreiben, auch, wenn es sehr blöd klingt. Aber in dieser Abschlussrunde herrscht eine Atmosphäre der Liebe. Die Kinder sitzen mit ganz klarem, offenen Blick vor uns und wir spüren ganz deutlich ihre Nähe. Das sind die Kinder, die eben noch völlig durchgedreht sind und uns übelst beschimpft haben? Das ist völlig verrückt. Ich denke, mein Gott, wir sind durch die Krise durch. Wir haben es durch das Nadelöhr geschafft.

Bleibt nur noch zu sagen: Die Aufführung am Donnerstag Abend war ein voller Erfolg. Die Klasse wirkte wie ein verschworener Haufen und diese liebevolle Stimmung, die wir nach der Krise im Abschlusskreis hatten, schwappte von der Bühne ins Publikum: Das Publikum bekam eine volle Ladung Liebe von der Bühne. Und darüber hinaus war alles zu sehen, was wir in den Wochen davor erarbeitet hatten. Wie ein kleines Wunder. Frau N. und ich saßen atemlos am Mischpult, trauten unseren Augen nicht und waren stumm vor Staunen.

Ich dachte nur: Dass eine solche Aufführung immer wieder tatsächlich ein kleines Wunder ist, können nur die verstehen, die das „Davor“ erlebt haben. Wenn das Publikum applaudiert und die Kinder strahlend im Scheinwerferlicht auf der Bühne stehen, wissen nur die wenigsten, dass zuvor ein großer Drache bekämpft und niedergerungen werden musste – und dass niemand währenddessen wusste, ob es diesmal gelingen würde.