Der lange Weg – von der destruktiven zur produktiven Störung

Folgender Beitrag ist jetzt in der aktuellen Zeitschrift „Schultheater“, Ausgabe „Störungen“ (4. Quartal 2015, Bestell-Nr. 545023, Friedrich Verlag) erschienen:

Der lange Weg – von der destruktiven zur produktiven Störung

(Im Folgenden wird der Verständlichkeit wegen nur die männliche Form benutzt. Ich weise aber ausdrücklich darauf hin, dass ich grundsätzlich alle Geschlechter meine).

Sich an den Rand setzen („keinen Bock“), wild durch den Raum toben, sich in die Theater- oder Fenstervorhänge einwickeln, die Warm-Up-Bälle klauen und damit die anderen abwerfen, mit dem Handy spielen, die anderen herumschubsen, auslachen und provozieren: Es gibt viele Arten, den Unterricht zu stören. Die meisten haben mit der Angst vor Statusverlust innerhalb der Gruppe zu tun.

Störungen können einen künstlerischen Prozess völlig unmöglich machen. Als Theaterlehrer müssen wir uns die Rolle des „Ermöglichers von künstlerischen Prozessen“ zunächst einmal hart erarbeiten – indem wir die Ursachen von destruktiven Störungen, die auf der sozialen Ebene stattfinden, verstehen und schrittweise beheben.

Die Angst vor dem Statusverlust
Weil Spieler und Theaterlehrer zu Beginn des Prozesses noch über keine gemeinsame Schnittmenge an Erfahrungen und Vokabular verfügen und die (sozialen) Rollen noch nicht „ausgefochten“ sind, kann es zu Irritationen und Konflikten kommen – oft in Form von Status-Rangeleien (Keith Johnstone), die sich als destruktive Störungen äußern: Sich demonstrativ vom Unterrichtsgeschehen abwenden, die Unterrichtsinhalte lächerlich machen, usw. siehe oben.

Solange ein Großteil der Schüler (noch) kein Vertrauen in unsere Expertise als Theaterlehrer hat („Wir machen ja nur blöde Spiele“), geht es den Schülern nicht um den Arbeitsprozess, sondern um ihren persönlichen Status innerhalb der Gruppe. Es gibt noch keine „Kultur der Begegnung“, noch keine akzeptierte Führung, quasi ein „Machtvakuum“. Die Gruppe befindet sich deshalb in einer Art „anarchischem Zustand“, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Die allererste Aufgabe der Spielleitung muss es deshalb sein, die Führung – und damit die Verantwortung – zu übernehmen, um zügig eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts und eine intrinsische Motivation für den Arbeitsprozess zu erschaffen.

Diese mühselige Phase zu Beginn können wir nur meistern, wenn wir verantwortungsvolle, versierte Statusspieler sind, die das (störende) Verhalten ihrer Schüler nicht persönlich nehmen. Beispiel: Statuswippe (siehe Kasten), Paradoxe Intervention, Spiegelung, u.v.m. siehe „Spielend unterrichten und Kommunikation gestalten“, Beltz 2010, 2. Auflage).

Beispiel Statuswippe:
Fast alle Störungen auf der sozialen Ebene haben das Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen und haben ihre Ursache in einem sehr geringen Selbstbewusstsein (innere Tiefstatushaltung) des Schülers. Nach außen aber treten genau diese Schüler sehr selbstbewusst auf (äußere Hochstatushaltung). Dies entspricht dem Statusmodell des „Kläffers“.

Zur Orientierung die vier Statustypen:
Innen hoch, außen hoch: Die Rampensau
Innen tief, außen hoch: Der Kläffer
Innen tief, außen tief: Der Teamplayer
Innen hoch, außen tief: Der Charismatiker

Die Rampensau: Innere Haltung hoch, äußere Haltung hoch
Die Rampensau sucht den Konflikt.
Innen hoch, außen hoch erzeugt Distanz und Respekt, aber keine Sympathie.
Die Rampensau vermeidet emotionale Nähe zu anderen Menschen und betrachtet Situationen mit anderen Menschen als Machtspiele, die es um jeden Preis zu gewinnen gilt. Empathie ist schwach ausgeprägt. Die Rampensau sieht sich selbst als Zentrum der Situation. Sie setzt ihre Interessen und Ziele gegen die Ziele anderer durch – manchmal ohne Rücksicht auf Verluste. Der Typus „Innen hoch, außen hoch“ wird respektiert, oft gefürchtet, aber selten gemocht.

Der Kläffer: Innere Haltung tief, äußere Haltung hoch
Der Kläffer verschärft den Konflikt.
Innen tief, außen hoch erzeugt weder Respekt noch Sympathie.
Der Kläffer fühlt sich missverstanden und gedemütigt. Seine Ängste und sein verletztes Selbstwertgefühl kompensiert er durch Hochstatus-Verhalten nach außen. Er will eigentlich geliebt werden, sucht Anerkennung und Verständnis. Da er aber hoch spielt und den anderen Raum nimmt, erzeugt er keine Nähe, kein Verständnis. Er erhält aber auch keine Anerkennung, keinen Respekt, weil der äußere Hochstatus nicht von einem starken inneren Selbstbild getragen ist und sein Verhalten wie eine Fassade wirkt. Der Typus Kläffer wird heimlich belächelt, er wird weder gemocht, noch respektiert.

Der Teamplayer: Innere Haltung tief, äußere Haltung tief
Der Teamplayer vermeidet den Konflikt.
Innen tief, außen tief erzeugt keinen Respekt, aber große Sympathie.
Der Teamplayer wird von allen gemocht. Er hält wenig von sich selbst und ist immer bemüht, mit anderen Harmonie herzustellen. Der Teamplayer ist extrem empathisch und kann sich in alle einfühlen. Er kann sich aber überhaupt nicht durchsetzen oder unangenehme Entscheidungen treffen, weil er es allen rechtmachen will. Der Teamplayer ist hilfsbereit, zuverlässig und treu. Der Teamplayer stellt sich für die Interessen und Ideen anderer zur Verfügung, teilweise bis zur Selbstaufgabe. Innen tief, außen tief wird nicht respektiert, aber gemocht.

Der Charismatiker: Innere Haltung hoch, äußere Haltung tief
Der Charismatiker löst den Konflikt.
Innen hoch, außen tief erzeugt sowohl großen Respekt als auch große Sympathie.
Der Charismatiker ruht in sich selbst und ist nicht um seinen Status besorgt. Der Charismatiker ist innerlich unabhängig, sowohl von anderen als auch von eigenen, persönlichen Interessen. Er sieht von sich selbst ab und verkoppelt sich mit einem übergeordneten Ziel. Der Charismatiker ist ein Statusspieler, das heißt, er kann in jeder Situation und jedem Menschen gegenüber den Status einnehmen, der für die Situation oder für sein Gegenüber förderlich ist. Der Charismatiker verfolgt sein Ziel über einen längeren Zeitraum und kann auch Niederlagen „weg stecken“. Es geht ihm nicht um die eigene Eitelkeit, sondern um das zu erreichende Ziel. Der Charismatiker ist immer bestrebt, mit seinem Gegenüber einen Statusausgleich und damit eine Beziehung auf Augenhöhe herzustellen. Innen hoch, außen tief wird sowohl respektiert als auch geliebt.

(aus „Spielend unterrichten und Kommunikation gestalten – Mit schauspielerischen Mitteln für Unterricht begeistern“, Maike Plath, Beltz 2009, 2. Auflage, S. 57, 58)

Das Prinzip der Statuswippe basiert auf der Tatsache, dass Hochstatus automatisch Tiefstatus beim Gegenüber erzeugt – und umgekehrt: Ich gehe rauf, du gehst runter.

Diejenigen Schüler, die am wenigsten Aufmerksamkeit durch gute Leistungen erreichen können, stören am meisten. Denn diese Störungen entstehen in der Absicht, den Status des Lehrers herabsetzen und dadurch den eigenen Status innerhalb der Gruppe zu heben. Hinter störendem Verhalten vieler Schüler steht die Logik: Wenn ich befürchte, im Unterricht lächerlich gemacht zu werden oder zu scheitern, dann stelle ich lieber den gesamten Unterricht und die Lehrkraft von vornherein in Frage, nach dem Motto: „Ich könnte natürlich alles – aber ich will gar nicht, weil es mir zu blöd ist.“ Dies ist nichts weiter als der Schutz vor einer vermeintlichen Niederlage – also vor Statusverlust.

Die Statuswippe: Aufgabe der Lehrkraft ist es also, den niedrigen inneren Status des störenden Schülers zu heben. Ist die Spielleitung selbst innen tief, sucht sie entweder Harmonie (Teamplayer) und wird nicht ernst genommen: Der Schüler stört weiter.

Oder sie ist ebenfalls ein Kläffer, fühlt sich persönlich angegriffen und reagiert aufgebracht. Dann verstärkt sich der Konflikt und meistens endet dieser in einer Eskalation und einer Sanktion seitens der Lehrkraft, die den Schüler noch weiter demütigt – also im Status herabsetzt. Das ist für den Arbeitsprozess nicht konstruktiv, da die Ursache für die Störung nur verstärkt wird.

Die Spielleitung muss also aus einer inneren Hochstatushaltung heraus dem störenden Schüler tief begegnen, um dessen inneren Status zu heben. Statuswippe: Die Lehrkraft geht im Status runter, dadurch geht der Schüler im Status hoch.

Beispiel: Schüler rennt zum Ton-Mischpult, schiebt alle Kanäle gleichzeitig hoch und freut sich sichtlich über den kreischenden Ton der Übersteuerung (Ziel: Status der Lehrkraft herabsetzen, und durch die Aufmerksamkeit der anderen den eigenen Status erhöhen).

Reaktion Spielleitung, innen tief, außen hoch (falsch): Lehrkraft rennt zum Mischpult, brüllt den Schüler an und erteilt eine Sanktion (bei der Schulleitung melden, Extra-Aufgabe, oder oder).

Ergebnis: Schüler fühlt sich vom Lehrer gedemütigt und sucht noch mehr Aufmerksamkeit (also Statusgewinn) von den anderen. Die nächste Provokation ist vorprogrammiert. Denn wer gedemütigt ist, ist innerlich nur mit der Kompensation der Demütigung beschäftigt – nicht mit Unterrichtsinhalten.

Reaktion Spielleitung, innen hoch, außen tief (richtig): Lehrkraft geht entspannt zum Mischpult und sagt beispielsweise: Interessant, du möchtest also die Technik machen? Alles klar, ich erklär dir das mal eben – denn ich brauche dringend jemanden, der das macht. Eine Übersteuerung passiert eigentlich nur Anfängern, aber du bist ja nicht blöd. Guck mal hier… usw.

Ergebnis: Der Schüler fühlt sich ernst genommen und gefordert. Er hat jetzt plötzlich eine Aufgabe, die er gut machen will. Die hohe Erwartung und das Vertrauen der Lehrkraft erzeugt beim Schüler den Ehrgeiz, den Lehrer nicht enttäuschen zu wollen, denn dieser traut ihm die Aufgabe ja zu! Der Lehrer ist dem Schüler außen tief begegnet – der Schüler geht also innen hoch – und muss nicht mehr außen hoch spielen („einen auf dicke Hose machen“).

Aufgaben der Spielleitung
Grundsätzlich muss die Spielleitung an folgenden Punkten arbeiten, um langfristig destruktive Störungen zu vermeiden:

Punkt 1: Die Führung übernehmen
Die erste Maßnahme ist es, die Führung zu übernehmen. Das bedeutet auch, dass der Theaterlehrer bereit ist, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass niemand mehr Demütigung und Statusverlust in der Gruppe fürchten muss. Das bedeutet konkret, zu Beginn des Prozesses tendenziell Hochstatus-Signale auszusenden (Distanz!), denn: Es muss vollkommen klar sein, dass der Theaterlehrer nicht harmoniebedürftig ist (innere Tiefstatus-Haltung), sprich, dass er nicht „beliebt sein will“, sondern konsequent ein anspruchsvolles, übergeordnetes Ziel verfolgt. Denn nur dann kann er nach einiger Zeit erfolgreich außen tief spielen und den Schülern menschlich souverän und entspannt begegnen, ohne an Autorität zu verlieren.

„Sanktion“: Wer andere verletzt oder beleidigt, muss sofort „sanktioniert“ werden (aber auf keinen Fall herabgesetzt!). Wir sind als Theaterlehrer für das Wohl dieser Jugendlichen verantwortlich und müssen eine Atmosphäre herstellen, in der sie geborgen sind und sich auf die Inhalte des Unterrichts konzentrieren können. Also: Sanktioniert werden ja. Allerdings ohne persönliche Betroffenheit, eher wie auf dem Sportplatz: Kein Schiedsrichter ist ja persönlich beleidigt, wenn einer der Spieler ein Foul begeht. Ob rote Karte oder nicht, er bleibt ja weiterhin ein „Weltklassespieler“. Der Theaterlehrer entzieht einem störenden Schüler nicht den grundsätzlichen Respekt, sondern setzt nur die fairen Regeln durch. So kann der Theaterlehrer durchaus fünf Minuten später wieder Nähe zu besagtem Schüler herstellen, in Form eines netten Wortes oder eines Scherzes.

Aufgabe am „Spielfeldrand“ (Gelbe und rote Karte): Wer stört, wird aus dem Spiel, dem Warm-up, der Übung herausgenommen und übernimmt eine andere Aufgabe vom „Spielfeldrand“ aus, zum Beispiel eine Beobachtungsaufgabe („Welche Spieler halten besonders gut die Körperspannung?“) mit anschließendem mündlichen Feedback (Gelbe Karte). Stört der Schüler weiterhin, muss eine Beobachtungsaufgabe verschriftlicht werden – und erst, wenn dies erfolgt ist, kann der Spieler wieder mitmachen (Rote Karte).

Gespräch außerhalb des Unterrichts, innen hoch, außen tief: Auf jeden Fall konstruktiv ist auch ein persönliches Gespräch auf menschlicher Ebene außerhalb des Unterrichts, in dem es darum geht, den Schüler zu verstehen, Interesse für seine Situation zu zeigen und mit ihm gemeinsam eine Lösung zu finden. (Solche Gespräche funktionieren ebenfalls nur dann, wenn die Lehrkraft innen hoch und außen tief agiert – also eine natürliche Autorität für den Schüler darstellt, Statustyp: Charismatiker siehe oben).

Motivation schaffen: „Sanktionen“ dieser Art sind langfristig nur erfolgreich, wenn die Spielleitung den Unterricht so gestaltet, dass eine Mehrheit unbedingt mitmachen möchte. Wesentliche Grundvoraussetzungen dafür sind der Beziehungsaspekt (gelingende, nahe Beziehungen zu allen Schülern und eine Kommunikation der absoluten Wertschätzung) und Möglichkeiten der Partizipation seitens der Schüler (der Unterricht muss Erlebnisse schaffen, in denen alle Schüler auf ihre Weise erfolgreich sein können – dazu Beispiel: „Das Theatrale Mischpult“).

Punkt 2: Ein gemeinsames Ziel formulieren
Das gemeinsame Ziel ist die Vorstellung am Ende des Jahres (Produktionsorientierung). Die Schüler müssen von Anfang an wissen, dass alle Übungen und Aufgaben nicht dazu dienen, sie zu „besseren Menschen zu machen“ – sondern ein Produkt zu erschaffen, dass öffentlich präsentiert und ernst genommen wird und einen hohen Anspruch erfüllt. (Positive Wirkungen was ihr Sozialverhalten, Persönlichkeitsentwicklung, usw. angeht, stellen sich (nur) dann „von selbst“ ein. Das darf aber auf keinen Fall als Ziel formuliert werden oder als Subtext mitschwingen, weil sich die Schüler dadurch – zu Recht – abgewertet fühlen, womit man dann wieder beim Problem der Demütigung wäre).

Punkt 3: Eine Kultur der Wertschätzung etablieren
Eine Kultur der Wertschätzung entsteht dadurch, dass die Lehrkraft bei jedem einzelnen Kind das Positive sucht und hervorhebt und Erwartungen formuliert, die den individuellen Stärken der jeweiligen Schüler entsprechen. Der Fokus muss auf ihren Erfolgerlebnissen liegen – niemals auf ihren „Fehlern“ oder Schwächen.

Die Lehrkraft ist dafür verantwortlich, Aufgaben so zu stellen, dass jeder einzelne Schüler sich von einer gelungenen Seite zeigen kann. (Das ist auch die wichtigste Grundvoraussetzung für die intrinsische Motivation, siehe oben).

Wichtigstes Instrument der Wertschätzung ist das Feedbackverfahren. Was immer die Schüler präsentieren, wird von den jeweils anderen Schülern ausgewertet – und von der Lehrkraft moderiert. Wochenlang dürfen die Schüler ausschließlich ihre Lieblingsmomente benennen und diese genau beschreiben. Dadurch wird das hervorgehoben, was gelungen ist. Denn daran lernen die Schüler am meisten. Erst, wenn die gesamte Gruppe selbstverständlich und grundsätzlich immer die gelungenen Aspekte der Schülerergebnisse benennt, dürfen – nur auf Wunsch der betroffenen Schüler, die etwas gezeigt haben – auch Verbesserungsvorschläge gemacht werden.

Die Lehrkraft sollte Freude daran haben, auch die verborgensten Talente und Stärken ihrer Schüler aufzuspüren und sie weiter darin zu unterstützen.

Punkt 4: Künstlerische Handlungsmöglichkeiten aufzeigen
Spaß macht die Arbeit dann, wenn alle Spieler echte Erfolgserlebnisse haben – und sich niemand „dumm fühlt“. Dies ist in dem Maße möglich, in dem unsere Arbeit ernst gemeinte Partizipationsmöglichkeiten eröffnet. Partizipieren können die Spieler nur dann, wenn sie verstehen, worum es geht. Wenn es also ein fachliches Wissens- und Erfahrungsgefälle zwischen der Lehrkraft und den Schülern gibt (wovon man – zumindest fachlich – meistens ausgehen kann), muss die Spielleitung möglichst schnell dafür sorgen, dass die Jugendlichen in den künstlerischen Diskurs einsteigen können – sprich: Sie muss eine gemeinsame (Fach-) Sprache etablieren, über die sich alle miteinander verständigen können. Denn nur, wenn die Spieler anspruchsvolle Angebote machen können, kann die Spielleitung sie loben und weiter ermutigen. Ansonsten gerät sie in die Nörgel-Rolle, die deshalb negative Folgen hat, weil dann wieder die Gefahr der Demütigung auftaucht (siehe oben). Eine Möglichkeit, künstlerische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ist das Theatrale Mischpult (siehe Kasten).

Beispiel „Das Theatrale Mischpult“:
Das Theatrale Mischpult basiert auf einem „Open Knowledge Prinzip“. (In drei Baukästen im Beltz Verlag erschienen: Methodenrepertoire 1 und 2 und „Schreibwerkstatt“).

Das Theatrale Mischpult besteht aus 300 verschieden-farbigen Karten, von denen jede Farbe für eine verschiedene Kategorie der Kunstform Theater steht (orange: ästhetische Mittel, rot: Tätigkeiten, gelb: Gefühlsthemen, dunkelblau: Formations-Bausteine, hell-blau: Raumkoordinaten, usw.).

Grundidee ist es, die Kunstform Theater auf seine kleinst-möglichen Einheiten herunter zu brechen und transparent zu machen, um diese dann wieder völlig neu kombinieren zu können. Das Prinzip, das dahinter steckt, kann man anhand eines Beispieles veranschaulichen:

Stellen wir uns vor, wir reißen ein Haus komplett ab und zerlegen es in seine Einzelteile. Nun kann aus den Bestandteilen des Hauses ein komplett anderes Haus entstehen. Jeder Mensch kann die Bestandteile kreativ so anordnen, wie er oder sie sich das Haus wünscht – dabei müssen aber die Regeln der Statik beachtet werden. Das Haus kann nach individuellen Ideen gestaltet werden – aber es muss am Ende stehen (Anspruch der Theaterproduktion versus Beliebigkeit).

Die Schüler können mit Hilfe der Karten Schritt für Schritt Bilder, Aktionen und Szenenbausteine entwickeln und direkt auf ihre Wirkung hin überprüfen. Jeder Schüler kann dabei individuell seinen eigenen Zugang wählen. Über zahlreiche spielerische Übungen, die sich alle am Prinzip des Gamification (siehe unten) orientieren, werden immer neue Möglichkeiten des Theatralen Gestaltens direkt erlebt und auf ihre Wirkungen hin untersucht (Feedbackverfahren).

Auf diese Weise ermöglicht die Spielleitung ständig neue Erlebnisse, in Form von immer neuen Spielen mit dem Theatralen Mischpult, bei denen die Schüler eigene Erfahrungen machen, sowohl auf ästhetischer als auch auf sozialer Ebene (wie muss ich mit anderen umgehen, damit wir erfolgreich ein anspruchsvolles Produkt erschaffen können?).

Das Theatrale Mischpult bildet dabei den Referenzrahmen, auf den sich alle beziehen und der komplett transparent ist (Open knowledge). Die Arbeit mit dem Theatralen Mischpult basiert auf dem Prinzip der Überforderung:

Es gibt immer viel mehr Möglichkeiten und zu entdeckendes Wissen, als leistbar ist. Aber weil die Spielleitung ausschließlich das Gelungene verstärkt und nicht urteilt oder bewertet, wird in den Schülern wieder der eigene Forschungsdrang aktiviert. „Ihr dürft alles – aber ihr müsst nichts“.

Gamification: Alle Übungen sind in Spiele gerahmt, die größere Erzählungen aufmachen und von den Jugendlichen kreativ immer weiter entwickelt werden können.
(Wie mit dem Mischpult im einzelnen gearbeitet werden kann und zahlreiche Anregungen dazu finden sich in der unten angegebenen Literatur und den Methodenkästen zum „Theatralen Mischpult“. Die Chance des „Theatralen Mischpults“ liegt in den zahlreichen verschiedenen Möglichkeiten für die Spielleitung, komplexe theatrale Gestaltungsoptionen schrittweise und auf verschiedenen Schwierigkeitsgraden für die Jugendlichen transparent – und visuell sichtbar – anzubieten).

Bei dieser Arbeitsweise geht es NICHT um das Vorformulieren eines erwartbaren Ergebnisses – sondern um die Bereitstellung möglichst vieler Handlungsmöglichkeiten mit ergebnisoffenem Ausgang. Erst, wenn wirklich JEDES Kind im Raum gemerkt hat, dass es wirklich mit machen kann und dafür berechtigtes, ehrliches Lob erhält, entwickelt sich der „satte Raum gegenseitiger Wertschätzung“, der die Schüler zu Höchstleistungen motiviert.

Wenn Störungen produktiv werden
Wenn wir die pädagogische Führung und Verantwortung übernommen, ein gemeinsames, künstlerisch anspruchsvolles Ziel formuliert und durchgesetzt, eine Kultur der Wertschätzung etabliert und eine Spielwiese verschiedenster künstlerischer Handlungsmöglichkeiten eingeführt haben, werden die Störungen auf der sozialen Ebene weniger und gleichzeitig wird die Selbständigkeit der Gruppe größer. Erst dann wird es möglich, inhaltlich anspruchsvoll zu arbeiten.
Und erst von diesem Augenblick an, werden Störungen interessant und produktiv. Denn jetzt basieren sie nicht mehr auf sozialen Machtspielchen, sondern auf verschiedenen Perspektiven der Spieler. Produktive Störungen können so als konstruktive Impulse verstanden werden und im Sinne einer Unterbrechung des Erwarteten als Bereicherung.

Beispiele für produktive Störungen
Beispiele: Die Schüler können teilweise noch kein Deutsch, sprechen aber andere Sprachen. Dann bietet es sich an, den Vorgang des Übersetzens an sich zum Thema der theatralen Auseinandersetzung zu machen. Das kann sehr spannend sein, denn darüber wird deutlich, welche Herausforderung es eigentlich darstellt, Schnittmengen in der Bedeutung zu erzielen – sogar dann, wenn wir vermeintlich dieselben Wörter benutzen: Was meint einer, der „Zigeuner“ sagt? Was liegt hinter dem gesprochenem Wort? Welche Bilder haben wir im Kopf? Über den theatralen Prozess des Übersetzens werden plötzlich ganz andere Perspektiven und Hintergründe erfahrbar.

Oder: Ein Gruppe setzt sich mit dem Thema „Gender“ auseinander. Ein Schüler will partout keine Strumpfhose anziehen. Dann kann er seine inneren Widerstände zu einem inneren Monolog verarbeiten und diesen als Baustein in die Inszenierung einarbeiten (Gesehen bei Hajusom, „Das Gender-Ding, 2015).

Oder: Die Schüler_innen wollen unbedingt was Komisches auf die Bühne bringen. Sie denken dabei an „Fack ju, Göte“ und stellen sich das wahnsinnig lustig vor – streiten sich bei den Proben aber bis aufs Blut und kommen überhaupt nicht weiter. Dann kann man den Film gemeinsam schauen und die Gesetzmäßigkeit von Humor im Film und anschließend im Spiel auf der Bühne ergründen, in dem man einzelne Szenen unter Status-Aspekten und Timing auf verschiedene Weisen spielen lässt. Das ist für die Jugendlichen extrem erhellend und zieht die Erkenntnis nach sich, dass Humor durch absolute Präzision entsteht und extrem harte Arbeit ist.

Oder: Ein Schüler kann partout nicht still sitzen (nie) und klettert immer (wirklich immer) auf den Geländern der Treppe herum. Dann sehen wir das als szenischen Impuls und lassen ihn auch während seiner Szenen klettern. Denn das kommt ja irgendwoher. Vor allem aber macht es eventuell aus einer mittelmäßig spannenden Szene plötzlich eine interessante Szene. Vielleicht kommen wir so auch auf die Idee, dass wir ein Gerüst brauchen und wofür dieses Gerüst stehen könnte.