Zombie-Apokalypse II

Nach dem Essay haben uns viele Rückmeldungen und Fragen erreicht. Danke dafür! Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem WIE? Wie vergeben? Wie konkret? Wie trotzdem etwas dagegenhalten – gegen Wut und Hass? Hier kommt die Fortsetzung: Vergebung ganz konkret:

Zombie-Apokalypse Teil 2:
KONKRET REDEN: Zum „Konzept der Vergebung“

In der Weiterbildung „LernKünste“ fragte mich neulich eine Teilnehmerin: Was machst du denn eigentlich in deinen Probenprozessen, wenn du jemanden in deiner Gruppe überhaupt nicht magst, wenn eine Person dir persönlich einfach richtig auf den Zeiger geht?

Für einen Augenblick war es still im Raum, weil alle an Situationen dachten, in denen sie bestimmten Jugendlichen einfach keine Sympathie mehr entgegenbringen konnten. Ein Tabu. Aber wir wissen alle, dass es diese Momente gibt.

Ich selbst denke an die vielen Situationen in meiner Anfangszeit an der Schule in Neukölln zurück, wenn ich nach gefühlten Stunden der Geduld und immer neuen Versuchen, die Gruppe zu motivieren vor beispielsweise einer Schülerin stehe, die mir mit provozierend verächtlichem Blick mitteilt: „Theater ist einfach Scheiße, macht gar keinen Spaß. Immer die gleichen doofen Babyspiele…“ und dann, wenn in meinem Gesicht irgendeine Regung zu sehen ist, legt sie noch mit blasiertem Tonfall nach: „Oh man, und jetzt sind Sie gleich wieder beleidigt, Sie sind so ne Muschi, echt typisch Lehrerin, komm mal klar mit deinem Leben…“

Das sind die Momente, um die es geht – die ich meine. Die Momente, in denen „Vergebung“ nicht gerade das erste ist, was einem einfällt. Was ich aber damals allmählich verstanden habe, war: Paradoxerweise sind genau das die Situationen, in denen außer dem „Konzept der Vergebung“, wie ich es nenne, überhaupt gar nichts anderes mehr weiter hilft!

Das möchte ich konkretisieren, denn für mich ist das keineswegs nur eine theoretische Behauptung oder ein „frommer Wunsch“. Es ist ein Kraftakt. Aber einer, der sich lohnt.

Jahrelang habe ich das, was ich als „Konzept der Vergebung“ bezeichne, trainiert wie einen Marathon. Und während dieses „Trainings“ bin ich tausend Mal gescheitert. Unzählige Male habe ich zurück gezickt, empört Sanktionen erteilt, mich auf Wortgefechte eingelassen, die ich später bereut habe, hunderte Male habe ich wütende Selbstgespräche mit mir geführt, was man mit dieser Person So-und-So alles machen müsste, damit „die ENDLICH MAL DEN SCHUSS hört“!!

Man kann sich wunderbar in Wut-Gedanken rein steigern. Sich darin suhlen – im eigenen Selbstmitleid: Da reiße ich mir die ganze Zeit den Arsch auf und mache mir soviel Arbeit, so viele Gedanken – und? Alles Perlen vor die Säue! So eine Frechheit! Die hat’s ja einfach nicht besser verdient!… usw. usw.

Genützt hat`s mir nix.

Sanktionen führten zu weiteren Demütigungen, zu weiteren sinnlosen Machtkämpfen, zu Aggressionen auf beiden Seiten. Zu noch mehr Selbstmitleid und Kränkung. Du immer! Ich nie! Ihr! Wir! Krieg und Machtkampf – und notwenigerweise Verluste (Demütigungen) auf beiden Seiten. Demütigungen, Gegendemütigungen, neue Demütigungen.

Immerhin fing ich an, all diese Demütigungen zu SEHEN und entsetzt darüber zu sein:

Ich hatte sehr lange nicht GESEHEN, was alles im Schulalltag demütigend für diese Jugendlichen ist, was alles herabsetzend, ungerecht, ganz alltäglich (!) dikriminierend ist. Denn meine bisherige Perspektive war geprägt gewesen von engagierten, fortschrittlichen Schulen, wo es gar keine wütenden Schüler gab, aber eben auch keine abgeschlossenen Toilettentüren, und wo statt dessen Theater, Reisen, Chor, Big Bands usw. angeboten wurden und spannende naturwissenschaftliche Projekte – und all das in schönen, hellen, gepflegten Räumen mit teurer Ausstattung.

Was mir früher nie aufgefallen war: Da, wo die Smartboards, die Instrumente, die spannenden Projekte und die motivierten, freundlichen Lehrkräfte waren, da waren fast alle Schüler_innen weiß mit bürgerlichen, akademischen Hintergründen und Familien, in denen Weihnachten gefeiert wurde. Hier hielt man meine Berichte aus Neukölln für übertriebene „Räuberpistolen“. Denn wer gar keine Demütigung erlebt, kann sich kaum vorstellen, wie sie sich anfühlt.

„Wer nie gedemütigt wurde, wer sich nie hat wehren müssen gegen soziale Missachtung, wer sich nicht im Raster zwischen unsichtbar und monströs wiederfindet, kann sich kaum vorstellen, wie schwer es ist, im Moment der Kränkung oder Verletzung auch noch heiter und dankbar wirken zu sollen, um ja nicht die Attribute ‚zornig‘, ‚humorlos‘, (…) auf sich zu ziehen. Die implizite Erwartung, doch bitte schön ‚gelassen‘ zu reagieren auf systematische Kränkung oder Missachtung, ist zusätzlich belastend, weil sie unterstellt, es gäbe gar keinen Anlass dazu, gekränkt oder echauffiert zu sein.“

Carolin Emcke, „Gegen den Hass“, Seite 102, S. Fischer Verlag, 2016

Von den Hauptschüler_innen hieß es immer nur: Die sollen sich doch einfach mal benehmen!

In diesem scheinbar ausweglosen Kreislauf aus Demütigungen ist mir dann irgendwann die Frage nach dem ZIEL gekommen. Was ist denn eigentlich das tatsächliche (also das übergeordnete) Ziel vom Ganzen, was ich hier tue? Was MACHE ich hier überhaupt? Und WARUM mache ich es denn??

Und diese Frage führte mich zu meiner inneren Haltung, in der Folge zu Keith Johnstone und der Statuslehre, und zur Entwicklung eines Konzepts, nach dem wir nun arbeiten, und das uns jeden Tag wieder vor neue Herausforderungen stellt. Denn die Arbeit an sich selbst – und das Ringen um ein produktives Miteinander ist nie zu Ende.

Und trotzdem ist es alles so viel sinnvoller und auch einfacher, wenn wir alles vom ZIEL her bedenken.
Das Ziel könnte ich folgendermaßen beschreiben: Eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gleichberechtigte, selbstbestimmte Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten erhält und die Art wie er denkt, liebt, glaubt und lebt, in Kooperation mit anderen zur glücklichen Entfaltung bringen kann und dabei erlebt, dass genau das für alle gewinnbringend ist.

Kleiner geht’s nicht? Ja, tatsächlich: Kleiner geht’s nicht. Denn: Auch das habe ich von den Neuköllner Jugendlichen gelernt: Die großen (Sinn-) Ziele sind motivierender, als die kleinen „Man-sollte-mal-Ziele“. Der Glaube daran, dass wir durch unser kleines Leben die Zukunft sehr wohl zum Positiven verändern können, lässt uns hundert-tausend kleine Entscheidungen anders und konstruktiver treffen, als die zynische Annahme, dass „sowieso alles zu spät ist“. Und genau diese vielen kleinen „anderen Entscheidungen“ bewirken dann wirklich einen Unterschied…

Als ich anfing , vom Ziel her zu denken, war meine erste kleine Erkenntnis (entgegen meiner ursprünglichen Erwartung), dass es besser wird, je verschiedener wir sind und es auch sein dürfen.

Zweite Erkenntnis: Der real existierenden Verschiedenheit von uns allen kann man aber nicht mit „Tabellen“ und Standards begegnen.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung:

Wenn wir ein einfaches Ball-Warm-up machen, und es darum geht, dass die Bälle so lange wie möglich in der Luft bleiben (damit alle das Wunder gelungener Kooperation erfahren können), dann könnte ich jetzt einen „Optimierungs-Plan“ in Form einer Tabelle schreiben, auf dem ich kleinteilig festhalte, wie genau geworfen werden muss, damit ein anderer den Ball fangen kann.

Das könnte dann folgendermaßen aussehen: Stelle dich gerade hin, atme tief ein, schau deinem Gegenüber in die Augen, hole aus mit dem rechten Arm, wirf den Ball im Winkel so und so und mit der Kraft so und so in Bezug auf die Entfernung zu deinem Gegenüber, usw. usw. Sobald sich aber der Raum, das Licht, die Personen, die Ausgangsvoraussetzungen der Personen (einige haben Angst vor dem Ball, andere spielen Handball, eine sitzt im Rollstuhl, einer hat eine Schaumstoff-Allergie, eine hat den Arm im Gips, usw.) verändern, muss die Tabelle immer wieder um viele, viele Aspekte erweitert werden. Und das zu lernende Wissen wird immer kleinteiliger und fühlt sich immer theoretischer, immer fremder an.

Was wir in der Schule trotzdem meistens machen, ist: Wir präsentieren so eine „Tabelle“ und alle müssen erstmal alle Aspekte für optimales Werfen auswendig lernen, bevor der erste Ball überhaupt geworfen wird.

Und wenn dann endlich irgendwann geworfen wird, ist das Nicht-Befolgen der einzelnen Punkte in der Tabelle wahnsinnig attraktiv, denn bei jedem Verstoß regt sich die Lehrerin so schön auf und man erntet Gelächter der anderen, Aufmerksamkeit (Status-Gewinn) und kann sich in einem Machtkampf gegen die Lehrkraft als unerschrocken und furchtlos gegenüber Autoritäten erweisen (weiterer Statusgewinn).

Und die, die es „ordentlich“ machen wollen, rufen immer: Guck mal, Frau Plath!, wobei es ihnen nie um das Ziel geht, sondern nur darum, dass ich sehe, wie sie – im Gegensatz zu den anderen Idioten – den Ball RICHTIG geworfen haben, damit sie eine gute Note bekommen. Scheißegal, wie lange die Bälle in der Luft bleiben, Hauptsache, Frau Plath sieht, das ICH den Ball richtig geworfen habe!

Die Lehrkraft muss in diesem absurden Setting die ganze Zeit über im Blick haben, wer wie wirft und in welchem Umfang jeder einzelne Schüler die Aspekte in der Tabelle beachtet und erfüllt – denn auf dieser Grundlage muss die Bewertung (nach Noten) statt finden. Und wehe, es ist nicht „gerecht“!

Das eigentliche Ziel, nämlich dass die Bälle möglichst lange in der Luft bleiben, dass also die Vorteile von kooperativem Handeln erfahren werden, gerät dabei völlig in den Hintergrund. Die Bälle sausen durch die Gegend und man kann gar nicht so schnell gucken, wie die Bälle zu Boden fallen…

(Und kleine Anmerkung: In der Schule würde es natürlich beim Werfen der Bälle vielleicht auch gar nicht darum gehen, dass jemand den Ball so zu werfen lernt, dass ein anderer ihn fangen kann – sondern dass derjenige die beste Note erhält, der am weitesten wirft und derjenige die schlechtest Note, der am schlechtesten fangen kann… Ein Warm-Up, dessen Ziel Kooperation ist, wäre tatsächlich sogar schon ein Anfang…!) 😉

Was passiert, wenn wir vom Ziel her denken? Braucht es dafür die Tabelle? Braucht es die Bewertung? Was braucht es, wenn das Ziel eine Gruppe von Jugendlichen ist, die aufeinander achtgeben und die so wach und konzentriert sind, dass die Spannung im Raum mit Händen zu greifen ist?

Es braucht einen Menschen, der die innere Stärke besitzt, sich in den Dienst des Ziels zu stellen und von dort aus gedacht alles tut, damit sich der SINN vermitteln kann, warum wir dieses Ball-Warm-Up überhaupt machen und worum es dabei geht:

Nämlich um das Wunder gelungener Kooperation, das man erleben – also direkt erfahren und spüren kann- wenn alle so werfen, dass die Bälle gefangen werden können.

Jedes Kind weiß genau, dass es den Ball zu Samira (die Angst vor Bällen hat) anders werfen muss, als zu Ibo, der am liebsten drei Bälle gleichzeitig fängt. Wenn also das Ziel akzeptiert ist (weil es spürbar einen Sinn erfüllt), fangen alle an, sich individuell auf verschiedenste Weise beim Werfen zu optimieren.

Dabei fällt den Jugendlichen alles Mögliche ein, WIE man es schaffen kann, dass die Bälle in der Luft bleiben und der nächste Zeitrekord aufgestellt werden kann. (Was sie alles selbst heraus finden, sprengt jede Tabelle.)

Das Ziel wird ohne die Tabelle und ohne die Bewertung nicht nur erfüllt, sondern übertroffen: Die Jugendlichen übertragen die angenehme Erfahrung des Spiels auf alle anderen Bereiche, weil sie wissen: Wenn „ich den Ball so werfe“ (wenn ich so kommuniziere), dass der andere den Ball fangen kann (mich verstehen kann), dann erreichen wir viel mehr, ich selbst fühle mich gut dabei und es macht Spaß!

Wenn ich also vom Ziel her denke, kann ich individuell handeln – und zwar auf verschiedenste Weise (jede Standard-Tabelle wäre im Augenblick ihrer Aktualisierung schon wieder veraltet aufgrund der vielen Möglichkeiten, die sich immer wieder neu ergeben, wenn jeder einzelne individuell mitdenkt).

Und jetzt zurück zum Konzept der Vergebung.

Was für die Jugendlichen gilt, gilt auch für die, die Prozesse anleiten. Sobald ich in meiner Arbeit vom übergeordneten Ziel aus zu denken begann, fingen meine Handlungsweisen an, sich zu sortieren in „sinnvoll“ und nicht „sinnvoll“. Wenn ich scheiterte, konnte ich mir selbst vergeben, weil ich wusste: Dann probierst du es eben morgen noch mal anders. Die Möglichkeiten sind unendlich… Es ist gar nicht schlimm, wenn es diesmal nicht geklappt hat.

Aber eines war die Voraussetzung für alles andere. Die erste grundlegende Erkenntnis, sobald ich vom Ziel her zu denken begann war diese:

Gehen wir zurück zur beschriebenen Situation: Schülerin provoziert mich, findet alles „Scheiße“. Ich mache mir noch mal klar, was das ZIEL ist: Das Ziel ist, dass sie sich gesehen fühlt, mitmachen kann, einen Sinn für sich selbst sieht, wichtiger Teil einer gemeinsamen Aufgabe sein kann, usw.

Wenn DAS das Ziel ist, ist der allererste Schritt dahin eine innere Haltung der Vergebung.
Alles andere folgt danach. Es kann Distanz oder Nähe, Strenge oder Leichtigkeit sein – die Möglichkeiten sind unendlich – aber sie gehen vom Ziel aus und werden konstruktiv über eine darunter liegende Haltung der Liebe.

Das heißt: Vom anderen her zu denken, das zu ermöglichen, was unser Gegenüber braucht – und nicht ich selbst.

DAS ist es, was ich mit dem „Konzept der Vergebung“ meine. Aber ich kann es noch konkreter machen:

Die Teilnehmer_innen bei der Weiterbildung fragen mich: Was machst du, wenn du eine Jugendliche oder einen Jugendlichen in deiner Gruppe GAR NICHT magst?

Meine Antwort: Dann verordne ich mir Liebe.

Ich zwinge mich, das Sympathische, Liebenswerte, Schlaue und Schöne an diesem Kind zu entdecken – und wenn es MONATE dauert. Ich sehe genau hin, ich warte auf den winzigen Moment, in dem etwas Liebenswertes, Gutes aufblitzt. Ich liege auf der Lauer. Und wenn ich etwas entdeckt habe, dann sage ich es laut, dann mache ich es größer.

Und wenn danach wieder ganz viel Enttäuschendes kommt, dann halte ich meine Gedanken fest und zwinge sie bei diesem winzigen Moment des Positiven zu bleiben. Ich visualisiere diese kleine Situation immer wieder, und wenn die gemeinen, wertenden Gedanken wieder kommen, sage ich mir selbst Stopp ! und stelle mir einen inneren Türhüter davor, der diese Gedanken wieder raus schmeißt und dafür sorgt, dass sie draußen bleiben.

Das kann man trainieren.

Mit der Zeit sammle ich immer mehr solcher winzigen Momente und je mehr es werden und je mehr ich darüber spreche, desto schöner und liebenswerter wird das Kind. Das ist verblüffend, aber das ist tatsächlich so.

Und irgendwann sitzen wir vielleicht nebeneinander bei der Probe und sprechen über irgendetwas Nebensächliches und dann kommt plötzlich dieser Moment, in dem ich verwundert feststelle: Was für ein schöner, liebenswerter Mensch! Wie konnte ich das vorher nicht sehen?

Vor allem aber passiert folgendes: Dieser kleine Mensch fängt an, es ebenso zu machen: Er sammelt Lieblingsmomente. Er „macht mich nach“. Er legt sich auf die Lauer.

Und wenn er was Schönes entdeckt hat, dann sagt er zu jemand anderem: Das war mein Lieblingsmoment, als du so konzentriert und langsam nach vorne gegangen bist. So schön. Wie eine Königin.

Wir haben es in unserer Gesellschaft im Moment mit Lebendigen und mit Untoten zu tun. Die Zombies werden mehr, sie haben sich für einen Weg des Hassens entschieden. Hassen ist ansteckend. Aber Liebe auch.

Alles, was ich sagen will, ist: Es geht unabhängig von Hautfarbe und Herkunft und unabhängig von vergangenem und existierendem Unrecht in dieser Welt darum, sich zu entscheiden, für den einen oder den anderen Weg.

Ich habe nicht gesagt, dass wir offen rassistisch denkenden und handelnden Menschen ihren Hass durchgehen lassen sollten. Ganz und gar nicht. Das ist mit Vergeben nicht gemeint.

Was ich meine ist: Wir müssen vom Ziel her denken. Und das heißt: Wir brauchen Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Geschichte, die die Kraft haben, sich Liebe zu verordnen.

Denn es gibt noch die, die unentschieden sind und deren liebenswerte und starke Seiten noch auf ihre Entdeckung warten.

Maike Plath, 24. Oktober 2016